Selbstjustiz

2. Dezember, U3 Station Stephansplatz. Ich komme zum Bahnsteig, dort steht ein älterer Mann, der ein Mädchen mit einer Art Würgegriff an die Wand gedrückt hält. Das Mädchen ist etwa 12 Jahre alt. Ich gehe instinktiv dazwischen, schreie ihn an, er soll sie sofort loslassen. Er schreit mich an, ich soll mich nicht einmischen – sonst holt er die Polizei. Es geht offenbar darum, dass sie angeblich eine Geldbörse einer ebenfalls anwesenden Frau gestohlen hat. Der Mann schreit mich weiter an, ich schreie zurück, er stellt sich drohend vor mich, kommt mir unangenehm nahe – sein Gesicht wenige Zentimeter vor meinem. Wenn er nicht seine linke Hand weiterhin am Hals des Mädchens hätte, würde ich ihn wegstoßen. Aber während er mit mir streitet, hält er sie weiterhin in festem Griff. Rundherum mischen sich zahllose Menschen ein – alle um mir mitzuteilen, ich soll mich beruhigen. Sie hat ja etwas gestohlen, das passt schon was hier passiert. Das Mädchen spricht kaum Deutsch. Sie kommuniziert mit der Frau um deren Geldbörse es geht, offenbar einigen sie sich darauf zur Polizei zu gehen. Der Troß zieht von dannen, der Mann hält den Arm des Mädchens in festem Griff. Ich bleibe zurück – umringt von drei Frauen die mir weiterhin lautstark mitteilen, dass hier alles mit rechten Dingen zugegangen ist. „Wenn sie alt genug zum Stehlen ist, ist sie auch alt genug zum Festgehalten werden!“. Ich schimpfe weiter sinnlos herum, ich weiß, ich werde hier niemanden überzeugen. Ich frage mich, ob ich mitgehen hätte sollen. Erst in der U-Bahn fragt eine andere Frau nach was passiert ist. Sie bedankt sich bei mir, dass ich mich eingemischt habe. Ich bedanke mich bei ihr, dass sie nachgefragt hat. Wir fürchten uns gemeinsam vor dem kommenden Wahlsonntag und einer Zukunft, in der selbsternannte Securities ihren großen Moment an Kindern ausleben und alle anderen nur zuschauen.